20 Jahre Vokuhila

Jochen-Martin Gutsch liest anlässlich des Vokuhila Geburtstages. Hier der gesamte Text:

 

Kastanienallee, Ecke Oderberger

Das Jahr 2020 ist ja voller großer Jubiläen. 75 Jahre Kriegsende. 100 Jahre Gründung von Großberlin. 30 Jahre Deutsche Einheit. 50 Jahre Tatort.
Das allerwichtigste Jubiläum ist für mich aber: Mein Friseur wird 20 Jahre alt. Also, der Friseursalon.
Ewig hatte ich keinen Friseur. Ich zog herum. Mal saß ich bei „Stefani Bumann & Team“, weil mir der Kollektivgedanke im Namen gefiel. Aber meine Frisur sah immer sehr Bumann aus. Später ging ich auch mal bei Udo Walz vorbei. Walz, den ich nur aus der Ferne sah, hatte einen gewaltigen Bauch, der teilweise oben aus der Hose herausquoll, er hing über dem Hosenbund wie ein fetter, träger Kater. Das war faszinierend. Aber auch einschüchternd.
Eine Freundin aus München, die als Schauspielerin arbeitet, geht dort immer zu Gerhard Meir, auch so ein Promi-Friseur. Über Gerhard Meir las ich in der Bunten oder Gala, dass er mal einen ganz üblen LSD-Trip auf Mykonos hatte und dabei die ganze Zeit „Deck mich! Deck mich!“ gebrüllt haben soll!
Deshalb war ich nie bei Gerhard Meir.
Hängengeblieben ist in meinen Kopf auch ein Song der Ärzte. Ein Friseur-Lied mit hübscher Melodie, aber beunruhigenden Text:
Mein Baby war beim Frisör, jetzt ist sie hässlich, und zwar sehr. Sie war bei einem Haarstylisten. Ich werde sie wohl nie mehr fisten.

Mein Leben lang hatte ich immer ein bisschen Angst vor Friseuren. Die Gründe liegen in meiner Kindheit. Mein erster Friseur war meine Mutter, die mit einer Küchenschere, mit der sie auch Blumensträuße oder groben Karton schnitt, meine Haare frisierte. Sie gab sich große Mühe, aber was immer sie auch versuchte: stets kam ein Pony heraus. Meine ganze Pubertät über blieb ich der Pony-Junge, was meine sexuelle Erweckung durch ein Mädchen doch sehr verzögerte.
Manchmal schickte mich meine Mutter auch zu einer Friseurin. Zu Frau Rahn. Sie war, so vermutete ich damals, aus der fleischverarbeitenden Industrie ins Friseurgewerbe gewechselt. Wenn Frau Rahn mir die Haare wusch, drückte sie mir kräftig den Kopf vornüber ins Becken, als wollte sie ein Kälbchen ertränken.

Anschließend umwickelte sie meinen Hals eng mit kratzenden Schutzpapier und murmelte: „Ick weeß schon, watt ick mache.“ Darüberhinaus gab es keine Kommunikation. Einmal nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und bat Frau Rahn, da es die 80er Jahre waren, mir doch mal eine Popper-Locke zu schneiden. Nur so eine kleine, winzige. Aber Frau Rahn schüttelte den Kopf und sagte: „Nee, nee. Ick weeß schon, watt ick mache.“ Dann schor sie mich an den Seiten wie ein Schaf und ließ vorne den ewigen Pony.

Gehe ich heute in meinen Friseursalon, bin ich jedes Mal ganz gerührt, wenn die Friseurin fragt: „Wie soll ich es Dir schneiden?“ Enttäuschend ist nur, dass ich darauf keine gute Antwort habe. Sondern nur Variationen von: So wie immer. Seit Ewigkeiten habe ich die gleiche Frisur. Mal kürzer, mal länger. Wahrscheinlich habe ich intern längst den Spitznamen „Herr-So-Wie-Immer“. Oder Mister-Very-Boring. Oder es laufen Wetten, wann ich mal meinen Scheitel von links auf rechts lege. Trotzdem tut meine Friseurin immer so, als würden wir ein ernsthaftes Frisuren-Gespräch führen und darüber nachdenken wie der Schnitt denn diesmal aussehen könnte. Sie sind eben echt gute Schauspieler in dem Laden.

Kathleen, meine Friseurin, kenne ich länger als meine Frau. Die Bindung zwischen uns ist stark und fest wie ein Haargummi. Erst war Kathleen in einem anderen Salon tätig. Als sie dort plötzlich verschwand, war ich emotional orientierungslos und trank zu viel. Ich recherchierte ihr hinterher wie ein Stalker. Es ist einfach so: Ein Mann mit Friseurphobie kann die Partei wechseln, den Fußballverein, den Job, die Frau. Aber nie eine gute Friseurin! Zieht Kathleen irgendwann nach Thüringen oder in die Vereinigten Arabischen Emirate, was Gott verhindern möge, werde ich selbstverständlich zum Frisieren nach Gotha reisen. Oder nach Abu Dhabi.
Gerade für einen gestressten Mann in den mittleren Jahren ist ein Friseurbesuch ja immer auch ein bisschen Therapie. Ein guter Salon ist eine Art emotionale Wiederaufbereitungsanlage. Wie jeder Mann über 40 habe auch ich Angst vor Haarverlust. Mein Großvater: trug Glatze. Mein Vater: Halbglatze. Mein Bruder: Glatze. Mein Erblinie ist total verglatzt.
Wobei es ja so ist: Die Haare beim Mann werden mit den Jahren nicht weniger. Sie wachsen nur woanders. In den Ohren zum Beispiel. In der Nase. Am Rücken. Es ist eine Art Globalisierung am eigenen Körper. Die Haare spüren, dass der Standort am Kopf nicht mehr optimal ist und wandern ab. Die Ohren sind das Rumänien des kahlköpfigen Mannes.

Sascha, der einzige Mann, der hier arbeitet, the last man standing, eine Tatsache, die man nur heldenhaft nennen kann, hat mir vor einiger Zeit erklärt, dass ich nie eine Glatze bekommen werde. Ich weiß nicht, woher er das weiß. Vielleicht hat er in eine Glaskugel geschaut. Vielleicht hat er mich mit einem anderen Kunden verwechselt. Aber es ist mir auch egal.
Es war der schönste Satz, den ich je in diesem Salon gehört habe.
Meine Frau kommt übrigens nicht hier her zum Frisieren. Sie geht in die Schönhauser zu: Bernd Kramer. Das ist ein schöner, ganz und gar geerdeter Name für einen Friseur. Bernd. Viele Berliner Friseursalons, das ist auffällig, tragen leider Namen mit gequälten Wortspielereien. Haarreinspaziert. Haarbracadabra. Dirty Hairy. Pony&Clyde. Gut gefällt mir hingegen „Rudis Locken Puff“. Oder: „Haarschgesicht“.

Das Wunderbarste am Friseursalon Vokuhila ist aber, dass es ihn noch immer gibt. 20 Jahre sind in der Kastanienallee eine sehr, sehr, sehr lange Zeit. Die Vokuhila ist längst eine Kiez-Institution. Der Prater, Fahrrad-Linke, das Schwarz-Sauer und: Vokuhila. Die letzten Überlebenden.
Früher war die Kastanienallee als „Castingallee“ bekannt, weil dort angeblich Models, Schauspielerinnen und andere Menschen von Prominenz über die Gehwege schritten. Vielleicht lag es an meiner Kurzsichtigkeit, aber nie sah ich ein Top-Model, sondern nur, und äußerst gelegentlich, den blassen Jochen Distelmeyer, Sänger der schönen Band „Blumfeld, die es leider nicht mehr gibt.

Heute gibt es in der Kastanienallee überall vietnamesische Restaurants. Oder japanische Restaurants, die von Vietnamesen betrieben werden. Da ist der 50 Prozent-auf-Sushi-Vietnamese. Der Formfleisch-Vietnamese. Der alle-Cocktails-4,90-Vietnamese. Der Edelvietnamese. Der Udong-Suppen- Vietnamese. Der Ramen-Vietnamese. Die gute, alte Kastanienallee müsste eigentlich längst heißen: „Allee Ente kross gebacken mit frischen Gemüse und Austernpilzen serviert mit Duftreis“.
Ich hoffe, die Vietnamesen-Monokultur wird vergehen. Genauso wie die affige Barbershop-Mode. Im Barbershop arbeiten Männer in total engen Hosen und mit riesigen Bärten, die mich immer an die voluminösen, harzigen Bärte der DDR-Bürgerrechtler erinnern. Im Bart von Markus Meckel konnte man ja früher ein ganzes Huhn verstecken.

Vokuhila ist noch da. Claire ist noch da. Nicht weggeblasen von 20 Jahren Wandel, Gentrifizierung, Zeitgeist und Laktoseintoleranz.
Was für ein großes, großes Glück. Vor allem für uns Kunden.
Happy Birthday!